1. Newsletter IX 2025

  2. Irène Zurkinden: „Le ballet lugubre“ (das düstere Ballet), Öl auf Leinwand, 1942, 50 x 65 cm, ausgestellt in „die Liebe, das Leben“ in der Basler Kulturstiftung H. Geiger. Im Besitz der Helvetia Kunstsammlung. Foto: azw

Die Sommerausstellungen neigen sich dem Ende zu; so ist mein Newsletter September 2025 über Strecken bereits Review. In die engere Auswahl für eine Besprechung kamen «ArteSoazza» im Misox, Irène Zurkinden in der Kulturstiftung H. Geiger, Julian Charrière im Museum Tinguely, Pauline Boudry und Renate Lorenz in Bellelay.

Am liebsten alle, doch ich gehe mal dem Herzen nach.

Situative Ausstellungen in abgelegenen Gegenden sind aktuell ein Hype – man denke an die Gemmi, den Gotthard, ans Safiental, an die Arte Bregaglia oder – wie hier – an ArteSoazza. Wie viel ist da Tourismuswerbung, wie stark ist die Kunst ein Anliegen der Veranstalter*innen? Wie auch immer: Meine Reise ins Misox war ein Erlebnis – künstlerisch wie geographisch, historisch, landschaftlich. Diese Berge, dieser Taleinschnitt! Doch um ehrlich zu sein: Ich musste zuerst Google Earth fragen, wo das Misox genau ist und wie man dahin kommt. Die Bilder von der 2024 bei einem Unwetter eingestürzten Brücke von Lostallo (unterhalb Soazza) hatte ich im Kopf, den Radio-Hinweis auf die San Bernardino-Route als alternative Nord-Süd-Achse hundertfach im Ohr, aber jetzt fuhr ich umgekehrt von Bellinzona in nordöstlicher Richtung hinauf ins bündnerische Misox; ins Dorf Soazza mit seiner bildprägenden Kirche zu Ehren des heiligen Martin, der einst seinen roten Umhang zerschnitt und den halben Teil einem Bettler gab.

Soazza kämpft wie viele 300-Seelen-Dörfer in den Bergen ums Überleben. Zwar sieht alles proper aus, doch ausser einem Hotel, einem Restaurant und einer Bar gibt es da nichts, nicht einmal einen Kiosk o.ä. ABER: Die Busstation ist ein Kulturzentrum und just am Abend meiner Ankunft findet in der Kirche ein wunderbares Konzert mit einem weltgereisten Tenorsaxophonisten im Dialog mit der Orgel statt; Musik von Hildegard van Bingen bis zu Jazz-Kompositionen. Wow!

Was ich nicht wusste, ist, dass Zilla Leutenegger, die bekannte Schweizer Künstlerin, seit ihrer Kindheit daselbst in den Ferien weilte, heute noch ein Atelier hat und die Initiantin von ArteSoazza ist. Das ist sicher mit ein Grund warum die zehn Künstler*innen, die Kurator Luciano Fasciati (Galerist/Chur) auf ihren Wunsch nach Soazza einlud, auch wirklich kamen, unter ihnen Bob Gramsma, Roman Signer, Karin Sander, Asi Föcker… .  (Im Bild: Lisa Gianotti , kuratorische Assistentin, erläutert das Graffiti von  Zilla Leutenegger in deren Atelier.)

Ein Highlight ist die Assemblage aus gereinigten Metall-Artefakten von der zerstörten Brücke von Lostallo, die BOB GRAMSMA im nahen Recycling-Zentrum als Haufen zur Verschrottung vorgefunden hat. Ihre starke emotionale Wirkung gewinnt die Skulptur aus der Platzierung zwischen Aufbahrungskapelle und Friedhof unterhalb der St. Martinskirche. Wie er im Künstlergespräch sagte, hatte er zunächst das mulmige Gefühl, die sich wie selbstverständlich auf dem sockelähnlichen kleinen Hügel ruhende Skulptur könnte zu plakativ sein und er betonte darum wie wichtig ihm das Zusammenspiel zwischen der Materialität der Arbeit und dem immateriellen Umraum sei. Klar ist, dass die unberechenbaren Kräfte zwischen Konstruktion und Destruktion in «Pont» (so der Titel) als ständiges Warnsignal lauern.

Die Arbeit von ROMAN SIGNER springt einem nicht im gleichen Sinn sogleich an. Im Gegenteil – was soll ein roter Pullover mit ausgestreckten Armen an einer Holzwand hinter der Kirchenfassade St. Martin? Zugseile hinauf in den Turm weisen auf die «Performance», welche der Situation vorausging – offensichtlich segelte der Pullover am Seil hängend von oben nach unten und wurde da aufgefangen. Plötzlich wird mir klar, das ist genial!  In der Geschwindigkeit der Pullover-Fahrt visualisiert Signer den Schnitt des Heiligen Martin und die nach oben weisenden roten Ärmel die Hinwendung des Bettlers zum Ritter auf dem Pferd.

Sehr gut gefallen haben mir auch Asi Föckers mit Licht und Schatten durch den Tag und die Zeit wandernden, kleinen, präzise gesetzten Chromstahl-Zeichen am alten Elektrizitätsturm am Eingang des Dorfes sowie die beiden gespiegelten 3D-Figuren von Karin Sander (Bild rechts), die selbstbewusst in den beiden Kirchen des Dorfes stehend, die Rolle der Frau in diesen Räumen hinterfragen.

P.S. Noch ein kleines Kompliment sei angebracht: Die Ausstellung (bis 14. Sept.) ist sehr gut ausgeschildert und die Text-Tafeln vor Ort nachvollziehbar und verständlich. Einzig bei Signer finde ich meine Interpretation besser!

Ein völlig anderes Denkfeld öffnete sich beim Besuch der Ausstellung IRÈNE ZURKINDEN (1909-1987) in der Kulturstiftung H. Geiger in Basel. Die Künstlerin wird meist im Zusammenhang mit Meret Oppenheim genannt, war sie es doch, welche die 2 Jahre jüngere Freundin 1932 einlud, mit ihr nach Paris zu kommen. Ihr eigenes malerisches/zeichnerisches Schaffen blieb dabei hintan. Vor 40 Jahren, 2 Jahre vor ihrem Tod, richteten Dieter Koepplin und Christian Geelhaar im Kunstmuseum Basel ihre  dahin grösste Ausstellung ein. Ich schrieb damals sinngemäss, allein mit Malerei lasse sich diese quirlige mit Leib und Seele dem Leben verpflichtete Frau nicht gültig fassen. 2007 erschien dann Hans Joachim Müllers Monografie – mit Blick auf Zurkindens Rolle als Basler Künstlerin im Kontext der «Gruppe 33». Und nun also «Die Liebe, das Leben», kuratiert von Rebecca Eigen und Reto Thüring mit Elsa Himmer. Das Erstaunliche: Die Ausstellung, die am 13. September endet, wird als die publikumsmässig erfolgreichste in die Geschichte der Kulturstiftung eingehen. Die Basler*innen haben die in ihrer Zeit jegliche Konventionen ignorierende Künstlerin auch 38Jahre (!) nach ihrem Tod NICHT vergessen.

Ausgangspunkt sind die (zahlreichen!)  bisher unveröffentlichten Skizzenhefte. Im ca. 34 x 24 cm grossen, gut 2 kg (!) schweren Katalogbuch sind die einzelnen Seiten in Originalgrösse abgebildet. Damit verlieren sie, meiner Ansicht nach, leider die Leichtigkeit des Skizzenhaften, werden zu zeichnerischen Werken und sind doch keine, waren auch nie so gedacht.

In der Ausstellung sind sie physisch in Vitrinen und einsehbar an einem Bildschirm. Das kommt ihrem Charakter näher. Begleitet sind sie von gerahmten Zeichnungen an den Wänden, die deutlich gezielter gestaltet sind. Was sie allesamt auszeichnet (Skizzen und Zeichnungen) ist eine starke Betonung des Körperlichen, des Sinnlichen, des Erotischen, aber auch jener Freiheit, die der Surrealismus der 1930er-Jahre Fantasien aller Art gewährte. Für mich gehören diese in freien Formen umrissenen, oft heiter-sarkastischen Lebenskommentare zu einem der eindrücklichsten Aspekte ihres Schaffens. Klar, dass sie hiezu ihre Liebe zur Mode zum Tanz, zum Ballett ausspielte. Und vielleicht spielen ihnen die aktuellen «Woke»-Diskussionen zusätzlich in die Hände, lebte sie selbst doch bi-sexuell mit Partner, Kindern und Freundinnen.

Die Zeichnungen allein wären nicht Gewicht genug für die in Buch und Ausstellung geforderte, neue kunstgeschichtliche Betrachtungsweise Irène Zurkindens. Entsprechend betont ist denn auch die Malerei, insbesondere der 1930er/40er-Jahre, aber auch – vereinzelter – bis in die 1980er-Jahre. Sie bestätigt was schon immer klar war:  Zurkindens Fokus waren nie die stilistischen Erneuerungen des 20. Jahrhunderts, sondern – erneut – das bildnerische Habhaftwerden des Lebens – im Alltag wie auf der Bühne des freien Umgangs mit der Realität. Dass das Porträt eine gewichtige Rolle spielt, ist dem Umstand geschuldet, dass sie in Basel viele Aufträge umsetzte. Mir sind aber auch hier jene Bilder mit surrealem Einschlag – etwa in Intérieurs, die gleichsam artistisch oben und unten, vorne und hinten ausser Kraft setzen – die liebsten. Hier ist es ihr denn auch möglich, die Schrecken des 2. Weltkrieges gleichsam durch die Hintertüre einzufangen.

Irgendwann in den 60er/70er-Jahren wird sie – aus dem Blickwinkel der Kunst betrachtet – zunehmend müde, mag nicht mehr tanzen. Zwar gibt es auch in späten Bildern wunderschöne kleine Szenen – der Clown verschwindet nie!  – aber ihr genügte 1985 eine Schale mit dunkelschwarzen Kirschen als Bildmotiv; vielleicht ihre Art der Versöhnung mit dem eigenen Leben.

Die alle zwei Jahren in umfangreichem Rahmen inszenierten Installationen in der Abteikirche von Bellelay (Berner Jura) sind häufig ein Erlebnis! Das war auch dieses Jahr der Fall. Für den seit zwei Jahren als Kurator amtierenden Sylvain Menétrey war es ein Coup, dass er das spätestens seit «Moving Backwards» im Schweizer Pavillon der Biennale Venedig 2019 in den Museen der Welt ausstellende Künstlerinnen-Duos PAULINE BOUDRY (*Genf 1972) und RENATE LORENZ (*1963 Berlin) für Bellelay gewinnen konnte. Und «Achterbahn» hielt was man sich von ihrem Ruf versprach. Die Künstlerinnen hatten in Hauptschiff und Chor eine raumfüllende Holzkonstruktion mit einem Geleise für einen kleinen Lautsprecher-Waggon eingebaut, der – wenn auch nur zu lim

 

itierten Zeiten – unablässig hinauffuhr und nach einem Zwischenhalt wieder hinuntersauste und dabei im Loop den Song der amerikanischen Komponistin Colin Self «You ask me to not give up up up» abspielte. Das eingängige Lied verbreitete eine starke emotionale  Atmosphäre im Raum, in der man gebannt auf die Worte lauschte, wieder und wieder. Inhaltlich konnte man den im Saaltext abgedruckten Text in verschiedenste Kontexte stellen, politische, gesellschaftliche, kulturelle je nach der eigenen Lebenssituation.

Die Installation entspricht der Denk- und Arbeitsweise des Duos, das gerne verführerisch arbeitet und hintergründig agiert. In Lausanne z.B. zeigen sie im Rahmen von «Decorama» gleichzeitig einen glänzenden, monumentalen Raumteiler, der freilich aus Plastik ist und mit diesem Wissen plötzlich die Assoziation von schwarzer «Schlacke» evoziert.

Was der Installation weniger gelang als anderen, früheren, ist eine Wechselwirkung mit der barocken Architektur, der religiösen wie der weltlichen Geschichte der Abteikirche. Zwar spielte die «Achterbahn» mit dem enormen Raum-Volumen, aber sie hätte theoretisch auch an einem ganz anderen Ort aufgebaut sein können. Die Ausstellung endete am 31. August.

Auf einen vertieften Hinweis auf «Midnight Zone», die umfangreiche Ausstellung von Julian Charrière im Tinguely Museum in Basel, verzichte ich hier; vorerst. Ich musste erkennen, dass die sich über vier Stockwerke ausbreitende Präsentation – vorwiegend soundbetonte, videastische Arbeiten zum Thema «Tiefsee»­ ­– derart komplex ist, dass man sie bei einem ersten Besuch zwar registrierend zu erfassen vermag, aber das angestrebte Eintauchen ist nicht möglich, zu sehr überwiegt der Versuch die (weitgehend fremden) Worte in den ausführlichen (und notwendigen) Texten zu jedem Saal überhaupt zu verstehen. Was selbstverständlich für Charrière spricht, der hier in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ein Thema aufgreift, das analog der «Midnight Zone» (eine Zone, die von keinerlei Licht erreicht wird) unbekannte Bereiche des Planeten Erde erkundet und visuell, akustisch umsetzt.

Alle Fotos: azw